psychische Erkrankungen

7 gefährliche Mythen über psychische Erkrankungen

Menschenseele – weites Land

So weit die medizinische Forschung im 21. Jahrhundert auch schon gekommen ist, so viel Aufklärungsarbeit ist an einigen Fronten immer noch zu leisten. Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch, jedenfalls hat es den Anschein. Es könnte aber einfach auch nur daran liegen, dass durch die zunehmende Thematisierung Betroffene weniger Scheu haben, sich mit ihren Problemen nicht mehr zu verstecken, sondern nach Hilfe zu suchen. Trotzdem gibt es kaum einen anderen Bereich, der noch immer mit so vielen Mythen und Missverständnissen zu kämpfen hat wie dieser. Die 7 gefährlichsten und am weitesten verbreiteten dieser Vorurteile haben wir hier für dich zusammengefasst:

1. Psychische kranke Menschen sind gewalttätig – und umgekehrt

Wenn die Welt so einfach wäre! Natürlich käme uns der Gedanke sehr gelegen, dass nur psychisch kranke Menschen böse und gewalttätige Dinge tun bzw. der Umkehrschluss, dass jemand, der kriminell und unsozial handelt, unter einer psychischen Beeinträchtigung leiden muss. Die Realität ist viel komplizierter. Die unbequeme Wahrheit ist, dass geistig vollkommen gesunde Menschen zu den schrecklichsten Dingen fähig sind. Aber auch, dass psychische Erkrankungen jemanden in den meisten Fällen sehr viel eher zu einem Opfer als zu einer/m Täter*in machen. Rein statistisch betrachtet richten Menschen mit psychischen Störungen darüber hinaus ihre Aggressionen zuerst eher gegen sich selbst als gegen andere. Jene Menschen, die irgendwann tatsächlich aggressiv und gewalttätig werden, waren zuvor wesentlich häufiger selbst Opfer von gewalttätigem Verhalten oder Missbrauch durch ihre Eltern oder andere Vertrauenspersonen.

2. Glückspillen statt Medikamente 

Eine Vielzahl mentaler Erkrankungen kann inzwischen sehr gut medikamentös behandelt werden. Dennoch hält sich die Sichtweise hartnäckig, dass es sich dabei lediglich um ein paar harmlose aufmunternde Glückspillen handelt, die alles wieder ins Lot bringen können. Die Kehrseite der Mythen-Medaille sieht in Psychopharmaka ein enormes Potenzial an Nebenwirkungen und schädlichen Effekten jenseits der eigentlichen Behandlung. Die Wahrheit liegt wie so oft irgendwo in der Mitte dieser beiden Extreme. Fast jedes Medikament kann Nebenwirkungen verursachen. Auch bei Psychopharmaka wird es daher notwendig sein, manchmal mehrere Präparate auszuprobieren, bis sich der gewünschte Erfolg einstellt. Dies geschieht im Idealfall – wie bei allen verschreibungspflichtigen Medikamenten – ausschließlich unter ärztlicher Anleitung. Von Selbstversuchen sei natürlich auch hier dringend abgeraten. Allerdings ist der weit verbreitete Irrglaube, psychisch kranke Menschen seien einfach nur unglücklich oder gelangweilt, schlichtweg falsch. 

3. Eine psychische Erkrankung zeugt von Schwäche

Dieses Vorurteil hat ganzen Generationen von Betroffenen unnötiges Leid und großen Schmerz zugefügt. Das Stigma, schwach und einfach nicht stark oder gut genug für das Leben und die Gesellschaft zu sein, hat viele psychisch Kranke direkt in eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit und nicht selten in den Suizid getrieben. Das Problem dabei: Viele mentale Beeinträchtigungen haben Lethargie, Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit als Symptom. Für unwissende Außenstehende wirkt dieses Verhalten dann eher wie Faulheit und Desinteresse und weniger wie ein stummer Hilferuf. Eine mentale Störung kann sehr viele Ursachen haben. Die meisten davon sind tatsächlich gut behandelbar, wenn man sich helfen lässt. Angst und Scham davor, als Schwächling hingestellt zu werden, sollte in unserem aufgeklärten Informationszeitalter niemanden mehr davon abhalten, sich aus dieser Leidensspirale zu befreien. Dasselbe gilt für das Suchen und Fragen nach Hilfe. 

4. Kinder können (noch) gar nicht psychisch krank sein

Auch dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Zu den psychischen Erkrankungen, die Kinder jedoch definitiv sehr wohl haben können, gehören die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), und sogar Posttraumatische-Belastungsstörungen (PTBS) können Kinderseelen heimsuchen. Mit dem Einsetzen der Pubertät – also um das 14. Lebensjahr herum – kommen dann noch vermehrt Phobien und Zwangsstörungen dazu. Bleiben sie unbehandelt, droht ein Leben voller Missverständnisse und Kämpfe, das in Hilflosigkeit, Depressionen und nicht selten im Suizid endet. Im „günstigeren“ Fall werden solche Kinder als geistig minderbemittelt abgeurteilt und fallen durch den Rost des öffentlichen Schulsystems. So bleibt ihnen der Zugang zu Bildung ebenso verwehrt wie die Möglichkeit, en normales Leben ohne Stigmata und Beschränkungen zu führen.

5. Psychischen Erkrankungen kann nicht vorgebeugt werden

Einige psychische Erkrankungen sind erblich bedingt, das stimmt schon. Allerdings wird der Großteil der heute bekannten Störungen eher durch Traumata, negative Erfahrungen, Missbrauch und Gewalt sowie soziale Faktoren wie Armut und Existenzängste verursacht. Sogar Komplikationen während der Geburt können sich später im Leben noch derart negativ manifestieren. Eine glückliche Kindheit und ein möglichst sorgenfreies Leben wären daher einfach gesagt die besten Präventionsmaßnahmen gegen psychische Erkrankungen. Wenn es allerdings eine genetische Prädisposition innerhalb der Familie in diese Richtung gibt, sollte diesem Umstand natürlich besondere Aufmerksamkeit gezollt werden. Eine genetische Erkrankung muss nicht zwangsläufig zu einem genetischen Trauma werden, das jede Generation aufs Neue heimsucht und völlig unvorbereitet trifft. Spätestens wenn psychische Erkrankungen innerhalb einer Familie bekannt sind, müssen diese unbedingt offen und ehrlich thematisiert werden. 

6. Mentale Schwächen sind seltene Randerscheinungen

Die Statistiken sprechen hier inzwischen eindeutig dagegen, die Dunkelziffern sind vermutlich noch um ein Vielfaches höher. Ein seltenes Phänomen sind psychische Erkrankungen schon lange nicht mehr. Sie wurden früher nur eher totgeschwiegen, unter den Teppich gekehrt oder gar nicht als solche erkannt. Ein wissenschaftlicher Artikel der Harvard Medical School aus dem Jahr 2019 geht sogar so weit, die Verbreitung psychischer Erkrankungen innerhalb der Bevölkerung mit jener von Erkältungen gleichzusetzen. Fast jeder Mensch – das Autor*innenteam spricht von 99 Prozent – hat im Laufe seines Lebens mindestens einmal mit psychischen Belastungen zu kämpfen. Trennung, Tod naher Angehöriger, Jobverlust oder unsichere politische Zeiten sind nur einige der Gründe, die jede und jeden von uns im Handumdrehen vor diese Herausforderung stellen können.

7. Mit jemandem über Selbstmord zu sprechen, verschlimmert seine Lage nur

Das Tragische beim Versuch, der Suizid-Rate irgendwie Herr zu werden: Man kann die Menschen nicht mehr fragen, was ihnen letztendlich geholfen hätte. Die Forschung dazu kann nur auf Betroffene zurückgreifen, die es beim Versuch belassen oder sich mit ernsthaften Gedanken in diese Richtung getragen haben. Sie alle berichten jedoch einhellig darüber, dass ein Gespräch (ein einziges!) ihnen bereits sehr geholfen hätte. Die Vorstellung, sich niemandem anvertrauen zu können, ist oft nur der endgültige Auslöser dafür, seinem Leben ein Ende setzen zu wollen. Dieses Thema anzuschneiden, fällt niemandem leicht. Es ist im Prinzip jedoch so wie bei allen Erste-Hilfe-Maßnahmen: Das Schlechteste wäre es, gar nichts zu tun.

Fazit: Viele Vorurteile – viel unnötiges Leiden

Wenn man sich einen Vorteil der aktuellen Social Media-Entwicklung wünschen könnte, dann wäre es wohl die Aufklärung über Mythen wie diese. Wie vielen Menschen hätte man in den letzten Jahren und Jahrzehnten bereits helfen können, wenn das Thema „psychische Erkrankungen“ nicht derart mit Tabus behaftet und mit Vorurteilen abgeurteilt worden wäre. Wie bei so vielen Dingen im zwischenmenschlichen Bereich stößt alles, was wir nicht sofort verstehen, zuerst auf Ablehnung. Unser Gehirn scheint sich zu weigern, sich mit Situationen und Dingen auseinandersetzen zu wollen, die es nicht einordnen und sofort verstehen kann. Psychische Störungen gehören dazu. Gleichzeitig fürchten wir uns davor, selbst in irgendeiner Weise betroffen zu sein. Die Augen davor zu verschließen, wäre allerdings der am wenigsten hilfreiche Weg, sich dieser Herausforderung zu stellen.

https://www.mentalhealth.gov/basics/mental-health-myths-facts