Ich habe aufgehört, dich zu suchen, aber ich habe nicht aufgehört, dich zu lieben

Der eine Mensch, den wir nicht vergessen können

Die Liebe hat viele Gesichter und bedeutet jenseits aller romantischen Klischees für jeden Menschen etwas völlig anderes. Wir alle suchen sie, wünschen sie uns verzweifelt herbei und hegen bei jeder neuen Bekanntschaft einen Funken Hoffnung, dass sie oder er nun der eine Mensch für uns sein könnte. Wir belügen uns selbst dabei, biegen uns die Tatsachen so lange zurecht, bis sie in unsere Vorstellung passen und nehmen einiges an Leiden und Kompromissen in Kauf. Viele Menschen leben nur eine Illusion von Liebe. Sie reden sich den Alltag mit ihren Partner*innen schön, doch irgendwo in ihrem Herzen gibt es jemanden aus fernen Tagen, der ihnen einst weiche Knie und Schmetterlinge im Bauch bescherte. Die verlorene Liebe, die wir nie vergessen können, ist nur eine von vielen Spielarten der schönsten Nebensache der Welt. Dennoch gebührt ihr ein Sonderstatus und hiermit auch eine kurze, nähere Betrachtung.

1. Aus den Augen, aus dem Sinn?

Vielleicht war sie oder er nur ein heißer Urlaubsflirt, den wir vor Jahren auf einer exotischen Insel oder an einem einsamen Strand zurücklassen mussten. Möglicherweise waren die gemeinsamen Tag von Anfang an gezählt, oder die Umstände führten es uns deutlich vor Augen, dass diese Liebe ein Ablaufdatum hat. Es kann sein, dass eine Hälfte oder beide gebunden waren, oder gerade an einem Punkt im Leben angelangt, wo der Liebe nicht die oberste Priorität eingeräumt werden konnte. Bei manchen Menschen reicht schon ein kurzer Flirt an einem lauen Sommerabend, der intensive Blickkontakt mit einem Fremden oder das nette Lächeln einer Person, die unseren Weg nur flüchtig kreuzt. Einige Begegnungen haben tatsächlich das Zeug dazu, uns nie mehr aus dem Sinn zu gehen. Diese prickelnden und intensiven Intermezzi brauchen gar nicht mehr, um uns nachhaltig zu beeindrucken. Hier hat eine Form von Kontaktaufnahme stattgefunden, die Worte niemals zustande bringen würden. Kurze Momente können unser Leben verändern, uns nachhaltig tief beeindrucken und unsere Sicht auf die Liebe für immer verändern. Wer einen Menschen aus den Augen verliert, aber dennoch nicht aus seinem Sinn – vom Herzen ganz zu schweigen – wird die Liebe nie wieder geringschätzen oder für unmöglich halten. Denn welche Macht auf Erden sonst hätte die Gabe, innerhalb so kurzer Zeit Gefühle in uns auszulösen, die uns für immer in ihren Bann ziehen?

2. Das Geheimnisvolle siegt

In der Zeit von Social Media und Suchmaschinen wäre es wahrscheinlich ein Kinderspiel, beispielsweise die Urlaubsliebe des vorletzten Jahres ausfindig zu machen. Früher musste man noch die Telefonnummer hüten wie seinen Augapfel, heute würden Google, Facebook und Co. das Problem der Kontaktaufnahme für uns im Sekundenbruchteil lösen. Die Frage, die sich uns viel stellen sollte, ist: Sollen wir der Erinnerung wirklich ihren Zauber nehmen? Nostalgie ist immer eine wichtige Zutat, wenn es um eine verflossene Liebe geht. Der verlässliche Freund aus Kindertagen, das Mädchen aus der Uni, der schöne Unbekannte aus dem Zug oder die smarte Frau an der Supermarktkasse: Sie alle bekommen wir nicht aus dem Kopf, weil der Moment mit ihnen – oder die wenigen kurzen Augenblicke – so kostbar und intensiv waren, dass sie uns immer noch den Atem rauben. Der Versuch, sie aufzuspüren, kann daher fast nur in einer Enttäuschung münden. Wir haben diese Menschen in einem Moment ihres Lebens kennengelernt, wo sie jemand anders waren. Tatsächlich, aber auch nur gefühlt. Der Mann im Zug hat den Flirt sicher genossen. Das Mädchen aus Uni-Tagen denkt vielleicht auch immer noch an uns. Dennoch hat sich ihr Leben weiterentwickelt. Sie sind nicht mehr dieselben Personen wie damals, und wir sind es auch nicht mehr. Diese Liebe war und ist wie eine Momentaufnahme. Vermutlich lässt sie uns deshalb nicht mehr los, weil ein Augenblick – im Gegensatz zu Wochen, Monaten und Jahren – perfekt sein kann. Eine Sommerliebe oder einen Flirt lang alles richtig und nichts falsch zu machen, ist kein Ding der Unmöglichkeit. Der Alltag würde mit Sicherheit ganz anders aussehen. Jeder Mensch lebt in seiner eigenen kleinen Welt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns heute – lange Zeit später – dort problemlos zurechtfinden würden (und umgekehrt) ist sehr gering. Eine Liebe, die uns nicht aus dem Kopf gehen will und noch immer einen Fixplatz in unserem Herzen innehat, sollte genau dort verwahrt und in Ehren gehalten werden. Ihr Zauber liegt im Geheimnisvollen, nicht im Tatsächlichen.

3. Ist es Betrug, an sie zu denken?

Eine Frage, die sich viele Menschen stellen, die eine solche Seelenliebe in ihrem Herzen tragen, lautet: Betrüge ich eigentlich meine Partnerin/meinen Partner mit dieser Person? Schließlich bin ich in Gedanken sehr oft bei ihr und auch meine Gefühle sprechen noch immer eine sehr deutliche Sprache. Vielleicht bereuen wir die aktuelle Beziehung manchmal sogar, weil sie der verlorenen einfach nicht das Wasser reichen kann. Natürlich kann sie das nicht: Sie ist real und muss im Alltag bestehen. Sie ist Wirklichkeit, die andere ist Erinnerung, und vermutlich verklären wir sie inzwischen auch schon und heben sie auf ein Podest, das unerreichbar für jeden echten Menschen ist. Einige große Geschichten der Weltliteratur ranken sich um solche unfreiwilligen Dreiecksbeziehungen. Eine verstorbene oder verlorene Liebe aus der Vergangenheit macht die aktuelle unerträglich, und die neuen Partner*innen kämpfen ständig gegen einen übermächtigen Dämon an. Wenn eine Illusion von Liebe einer echten beständig das Wasser abgräbt, ist diese Wirkweise sicher die verkehrte. Es kann nicht sein und ist vor allem den aktuellen Partner*innen gegenüber höchst unfair, ständig gegen Windmühlen kämpfen zu müssen. Beeinträchtigt die mächtige Omnipräsenz einer verflossenen Liebe also das Beziehungsleben im Hier und Jetzt, ist sicher Handlungsbedarf angezeigt. Die Frage, die man sich dann schleunigst stellen sollte, ist: Was möchte ich? Denn: Fair ist diese Haltung weder der Partnerschaft noch uns selbst gegenüber. Profiteure oder Sieger bringt ein Konstrukt wie dieses keine hervor. Eine Dreiecksbeziehung mit einem Phantom wird mindestens einen Menschen todunglücklich machen. Und der dritte im Bunde, der hier, wenn überhaupt, der einzige Nutznießer sein könnte, wird davon nie etwas erfahren. Um die Frage also, die in Wirklichkeit nur du selbst für dich beantworten kannst, einer Antwort näher zu bringen: Solange niemand leidet und keinen Schaden davonträgt, ist eine Beziehung zu dritt mit der imaginären Liebe unseres Lebens kein Problem. Gedanken sind frei, auch innerhalb einer Partnerschaft. Leidet diese jedoch offenkundig unter der ständigen emotionalen Absenz der einen Hälfte, torpediert diese damit jede Chance auf gemeinsames Glück. 

Wie viel Vergangenheit erträgt die Gegenwart?

Eine verflossene und verlorene Liebe in Ehren zu halten, kann eine schöne Sache sein. Erfahrungen wie diese, die uns unser Leben lang darin bestärken, an die Liebe zu glauben und sie zu würdigen, können uns im Alltag eine enorme Hilfe sein. Nimmt die Nostalgie jedoch überhand und lassen wir Vergangenes wichtiger werden als das Gegenwärtige, müssen wir mit einer Bruchlandung rechnen. Gegen ein stilles, liebevolles Andenken in unserem Herzen spricht nichts. Solche Gedanken können tröstend sein, wenn der Alltag es einmal nicht gut mit uns meint. Werden die Schatten jedoch übermächtig, begraben sie alles an Glück unter sich, das wir uns im echten Leben hätten aufbauen können.