Essstörung

Trauma in der Kindheit und Essstörung

Die Leere füllen – Ballast loswerden

Essen ist zu einer komplizierten Sache geworden. Was seit Millionen von Jahren eigentlich nur unseren Hunger stillen und uns Energie spenden sollte, hat inzwischen beinahe mehr mit Gefühlen zu tun als mit Ernährung. Während uns die Medien seit Jahren ein völlig illusorisches Körperbild von extrem dünnen Frauen und unnatürlich durchtrainierten Männern verkaufen möchten, sieht die Realität tatsächlich ganz anders aus. Der Anteil an Menschen, die mit ihrem Gewicht tagtäglich einen Kampf zu führen meinen, ist in den letzten Jahren signifikant gestiegen. Für einige handelt es sich dabei um einen Kampf auf Leben und Tod. Während die beiden Krankheitsbilder Bulimia Nervosa und Anorexia Nervosa schon lange bekannt sind, hat ein dritter Teufelskreis in Sachen Essstörung sich zu diesen beiden hinzugesellt: die Binge Eating Disorder. Hier können die Patient*innen nicht damit aufhören, sich unkontrolliert riesige Mengen an Nahrung zuzuführen. Das anschließende Erbrechen – wie es Bulimie und Anorexie mit sich bringen – bleibt aus. Die ausschlaggebenden Faktoren, die zu diesen Krankheitsbildern führen, sind in vielen Fällen irgendwo in der Kindheit zu suchen.

Essen ist Macht

Missbrauch, Trauma und häusliche Gewalt zu erleben ist für viele Kinder leider traurige Realität. Was der kindliche Verstand nicht verarbeiten kann, wird auf später verschoben. Ohne professionelle Hilfe und ohne ausreichende Ursachenforschung führt die Betroffenen ihr Weg jedoch fatalerweise häufig mitten in eine Essstörung. Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache: Rund 30 Prozent aller Erwachsenen, die entweder unter Ess-Brech-Sucht oder Binge Eating leiden, mussten im Kindesalter sexuellen, körperlichen oder emotionalen Missbrauch erfahren. Es ist für Nicht-Betroffene immer noch unvorstellbar, wie Kinderseelen sich diesem täglichen Martyrium stellen müssen. Doch sie haben keine Wahl. Mit der Zeit entwickeln sie Strategien, die ihnen im ersten Moment als hilfreich erscheinen. Es ist naheliegend, sich Erleichterung über ein Tool zu suchen, das ihnen täglich zur Verfügung steht. Das Essen spielt in jedem familiären Kontext – auch in den dysfunktionalen – eine wichtige Rolle. Die Ernährung und Versorgung aller Familienmitglieder ist eine Art festes Ritual, das auch in zerrütteten Verhältnissen irgendwie stattfinden muss. Kinder, die von einem Elternteil missbraucht werden, am Familientisch dann aber die vorgetäuschte heile Welt erleben müssen, betrachten die täglichen Mahlzeiten irgendwann wie einen Verrat und lehnen sich dagegen auf. Kinder, die Zurückweisung, Ablehnung und körperliche Züchtigung erleben, sehnen sich nach Wärme und Trost. Ist freier Zugang zu Nahrungsmitteln gegeben, sehen sie in diesen oft die einzige Möglichkeit, sich zumindest für einige kurze Momente des Tages von ihrem Leid abzulenken. Bis zu diesen Punkten ist noch alles gut, zumindest was diese Bewältigungsstrategien betrifft. Der Knackpunkt, der die Trostschokolade und das Verweigern des Familientisches zum ernsthaften Problem werden lässt, ist das Gefühl von Kontrolle. Haben Kinder und junge Erwachsene einmal erkannt, dass sie in Sachen Essen die Fäden in der Hand halten, wo ihnen sonst rundherum alles entgleitet und sie die schrecklichsten Dinge über sich ergehen lassen müssen, ist diese Erkenntnis Fluch und Segen zugleich.

Binge Eating Disorder: Süß und satt bedeutet Sicherheit

Die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein als Kind gegenüber missbräuchlichen und gewalttätigen Erwachsenen führen den jungen Seelen dauerhaften Schaden zu. Wer sich nach Liebe sehnt, stattdessen aber maximal mit Missachtung und Ignoranz belohnt wird, setzt sein Taschengeld irgendwann in Süßigkeiten um. Die Mischung aus Fett und Zucker erinnert unser Gehirn angeblich an Muttermilch. Forscher*innen gehen sogar davon aus, dass unsere Gene bereits seit Anbeginn der Menschheit auf die Geschmacksrichtungen „süß“ und „fettig“ programmiert wurden. Als es noch nicht selbstverständlich war, jeden Tag unbegrenzten Zugang zu Nahrung zu haben, waren reife Früchte, fetter Fisch, Nüsse und Honig echte Highlights, die – sofort und in beliebigen Mengen gegessen – locker wieder karge Zeiten ausgleichen konnten. Unser Gehirn hat sich seit dieser Zeit nicht nennenswert weiterentwickelt, unser Stoffwechsel leider auch nicht. Wenn wir Süßes und/oder Fettiges essen, macht sich sofort ein Gefühl von Sicherheit in uns breit. Unser Körper signalisiert uns „Alles wird gut“. Nach diesem Gefühl können vernachlässigte Kinder – wen wundert es – schnell süchtig werden. Selbst Erwachsene ohne traumatische Kindheit kennen den unbeschreiblichen Genussmoment, nach einem stressigen Tag in eine Tafel Nougatschokolade zu beißen. Alles wird gut – aber eben nur vorübergehend. Es ist eigentlich eine völlig normale und logische Entwicklung, dass wir dieses Gefühl der Geborgenheit so oft wie möglich erleben möchten. Unser Körper jubelt anfangs mit unserer getrösteten Seele. Er darf endlich nach Herzenslust seine Fettdepots auffüllen und für schlechte Zeiten vorsorgen. Diese bleiben allerdings aus, jedenfalls, was die Nahrungsknappheit betrifft. Stattdessen nehmen wir kontinuierlich und rasend schnell beachtliche Mengen an Gewicht zu. Wir sehnen uns jedoch immer schneller nach dem Gefühl der Sicherheit und mit der Zeit auch nach jenem der Übersättigung. Die Binge Eating Disorder schafft es letztendlich, ihren Opfern das ersehnte Gefühl von Zufriedenheit zu verschaffen, indem es die Leere in ihrem Inneren füllt. Wie bei allen Suchterkrankungen werden die Intervalle jedoch auch hier immer kürzer, die die Betroffenen für das Erzielen des gewünschten Effekts benötigen. Hier mit einer simplen Diät gegensteuern zu wollen, wäre so, als würde man ein leckgeschlagenes Schiff mit Heftpflastern am Sinken hindern wollen. Kein grüner Salat der Welt und kein Stück Obst können mit Junk-Food und Süßigkeiten mithalten, dafür haben Jahrtausende an Evolution bestens vorgesorgt. Ohne professionelle Hilfe oder zumindest die brutale Selbsterkenntnis, dass man hier nicht dem Problem eine Lösung zuführt, sondern das Problem betoniert, gibt es aus dieser Abwärtsspirale kein Entkommen.

Anorexie und Bulimie: Kontrolliere das Unkontrollierbare

Um Gefühle und das Befüllen einer Leere geht es auch bei den beiden Varianten der Ess-Brech-Sucht. Der Wunsch der Betroffenen, dünn zu sein, steht dabei jedoch nur für Außenstehende im Vordergrund. Viele Patient*innen berichten, dass sie eigentlich am liebsten völlig von der Bildfläche verschwinden möchten. Der Wunsch, das eigene Leben auszuradieren und sich in Luft aufzulösen, ist omnipräsent. Da es im Kindes- und Jugendalter nicht so einfach möglich ist, sich aus dem Staub zu machen, erscheint das Auszehren des eigenen Körpers als brauchbarer Ersatz. Nebenbei bieten beide Krankheitsbilder den Betroffenen die Möglichkeit, die Kontrolle über ihr Leben zumindest ein Stück weit an sich zu reißen. Wenn sie schon Missbrauch, Züchtigung oder Vernachlässigung erleben müssen, gegen die sie sich nicht zur Wehr setzen können, dann kontrollieren sie wenigstens ihren Geist und ihren Körper. Während Binge Eaters sehr wohl mitbekommen, dass sie ihr Gewicht an eine bedrohliche Grenze von 200 Kilogramm und mehr bringen, erleben bulimische und anorektische Patient*innen häufig ein völlig verzerrtes Körperbild. Wo Außenstehende nur mehr Haut und Knochen registrieren, sehen sie selbst im Spiegel ein träges, dickes Kind, das sich nicht wehren kann.

Fazit: Was hilft?

Die psychischen Wunden sitzen bei Essstörungen viel zu tief, als dass man sie mit guten Ratschlägen und kurzfristigen Interventionen heilen könnte. Im Fall von sexuellem Missbrauch schwingt bei allen drei Krankheitsbildern erschwerend noch der unterschwellige Wunsch mit, mit einem adipösen oder ausgemergelten Körper irgendwann vielleicht nicht mehr attraktiv genug für den Missbrauch zu sein. Diese Denkart allein zeugt schon von dem immensen Dilemma, in dem die Betroffenen sich befinden. Echte Hilfe kann nur eine Langzeit-Therapie bieten. Unser Körper verzeiht uns diese Kompensationsstrategien meistens besser, als man meinen möchte. Die Wunden der Seele jedoch werden bleiben.

https://www.healthline.com/nutrition/common-eating-disorders